Asiaticus 1931: Das chinesische Rätsel

in: Die Weltbühne, Berlin, XXVII. Jahrgang, Nr. 17 vom 28. April 1931, S. 603–606

Seit mehr als vierhundert Jahren, als die Portugiesen China zum erstenmal mit Gewalt zum »friedlichen Handel« mit den weißen Eroberern Asiens zwingen wollten, steht das »chinesische Rätsel« auf der Tagesordnung der europäischen und später auch amerikanischen Expansionsgeschichte. Ursprünglich war es seine größere Widerstandsfähigkeit, gemessen an der Amerikas und sogar Indiens gegenüber den zivilisierten »Entdeckern«, die das chinesische »Rätsel« darstellte. Ein Riesenreich auf dem asiatischen Kontinent, mit entwickelter Landwirtschaft. ausgedehntem Handel und Schiffahrt, zusammengehalten durch eine theokratische Monarchie, die durch ihren antiken Prunk, ihre Monumentalbauten, den großen Schiffahrtskanal und die chinesische Mauer, sowie durch ihre zahlreichen Vasallenländer in ganz Asien eine achtunggebietende Macht repräsentierte. Es war nicht leicht, hier den Kreuzzug der Zivilisation zu führen. Die Chinesen schauten auf die ankommenden Piraten verächtlich herab, nannten sie »Barbaren« und »weiße Teufel«, und nirgends war die Legende von »the white man’s burden«, von der Last des weißen Mannes, den Wilden die christliche Zivilisation zu bringen, auf eine so harte Probe gesetzt, wie in China. Als nun dieses Rätsel mit Opium und Kriegsschiffen soweit bezwungen wurde, daß China zum Tummelplatz aller imperialistischen Mächte der Welt wurde und daß mit ihrer Hilfe alle bisherigen Revolutionen mit Niederlagen endeten, erfanden die wissenschaftlichen Klopffechter des Imperialismus ein andres Rätsel. Es ist die natürliche »Minderwertigkeit« der chinesischen Rasse, die deshalb nur unter der Vormundschaft der imperialistischen Mächte Bahn zur modernen Entwicklung gewinnen kann.



China ist das einzige Land der Welt, das seit Jahrtausenden in kontinuierlicher Entwicklung als Gesellschaft und Staat alle aufeinanderfolgenden Phasen der historischen Wirtschaftsformen bis zum heutigen Kapitalismus passierte. Es hat die theokratischen Despotien des alten Ägypten, Persien und Indien überlebt, es hat das antike Griechenland und das römische Reich emporsteigen und zusammenbrechen sehen, es überschritt die Schwelle des Mittelalters unter der Herrschaft von Dynastien, die schon vor Jahrtausenden mit demselben Auftrag vom Himmel die Erde zu regieren hatten, und erlebte unter diesem Szepter den Zusammenstoß mit den imperialistisch-kapitalistischen Mächten der Neuzeit. China ist bis zu diesem Zeitpunkt der Ahasver an Bodenständigkeit, von einer so ungeheuer langsamen Entwicklung, daß sie gegenüber der europäischer Völker wie eine geschichtliche Stagnation in Jahrtausenden und Jahrhunderten anmutet. Es hat Jahrtausende überdauert, aber ist in diesen Jahrtausenden wie festgefahren, und je weiter es sich durchringt, je größer und hemmender wird der Schutt und Morast dieser Jahrtausende, der es umgibt, der jeden weitern Schritt des Daseinskampfes noch qualvoller gestalte.



Dieses Phänomen hat aber nichts mit der angeblich natürlichen »Minderwertigkeit« der chinesischen Rasse zu tun. Diese »Minderwertigkeit« ist vielmehr eine bewußte Lüge des Imperialismus, ebenso wie jenes Hirngespinst eines Putnam Weale, eines berüchtigten englischen Schriftstellers in China, der in einem Dutzend von Büchern beweisen möchte, daß der Bürgerkrieg ein unabänderliches Naturgesetz der chinesischen Geschichte ist und sein wird. Derselbe Putnam Weale hat offenbar aufgrund dieser »wissenschaftlichen Einsicht« die Befähigung zu seinem spätem Beruf als Ratgeber Tschang Tso-lins, des mandschurischen Tigers, im Kampf gegen den revolutionären Süden erlangt …



Es liegt in der Natur der Sache, daß die junge revolutionäre Literatur Chinas und Indiens auch das Dunkel ihrer fernsten Geschichte durchbrechen muß, um ihre Aufgabe in der Gegenwart zu bewältigen. Sie ist deshalb zum Unterschied von der unsrigen gezwungen, bei der Erforschung der Grundlagen ihrer gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer besondern Wege aufgrund der geographischen Verhältnisse und der vorhandenen Produktivkräfte von den Anfängen ihrer Geschichte überhaupt zu beginnen. Diese Geschichtsforschung ist nicht auf Universitäten geschaffen, sie ist im Kampfe geboren, gibt sich auch nicht den Anschein der überparteilichen Objektivität, sondern spiegelt mutig in ihrer leidenschaftlichen Polemik die Partei der Revolution wider, der sie dient. Ihre Waffen sind die von Marx und Engels, nicht importiert von auswärtigen Emissären, sondern selbständig erarbeitet in den Erfahrungen ihrer eignen Klassenkämpfe, die den Inhalt ihrer Geschichte seit Jahrtausenden ausmachen.



Ein Beispiel hierfür ist das Buch von M. N. Roy »Revolution. und Konterrevolution in China«, das kürzlich in der Soziologischen Verlagsanstalt in Berlin, übersetzt aus dem englischen Manuskript von Paul Frölich, erschienen ist. Manabendra Nath Roy ist ein Inder, der bereits nach der großen revolutionären Welle in Indien im Gefolge des Weltkrieges eine vorzügliche marxistische Studie der indischen Gesellschaffsverhältnisse lieferte, die auch in Deutschland mehrere Auflagen erreichte. Die neueste Arbeit von Roy ist ein Geschichtswerk von fast fünfhundert Seiten, das eine Analyse der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft liefert und auf dieser Grundlage die Geschichte des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution in China schildert. Nicht nur die Geschichte der letzten Jahre, die aufgrund eigner Anschauung und revolutionärer Tätigkeit in China dargestellt wird, sondern gleichzeitig eine Studie über die Geschichte der Klassenkämpfe seit Jahrtausenden.



Die nachstehenden Sätze aus seinem Vorwort zeigen, was ihn zu dieser Arbeit legitimiert: »Dieses Buch ist das Ergebnis einer langen revolutionären Tätigkeit in meiner eignen Heimat – Indien – und in China. Mit der revolutionären Bewegung in der ganzen Kolonialwelt verbinden mich seit vielen Jahren enge Beziehungen, und ich spielte mehrere Jahre lang eine nicht unwichtige Rolle bei der Tätigkeit der Kommunistischen Internationale in jenen Gegenden. Schon vor Gründung der Kommunistischen Internationale bin ich in China, Holländisch-Indien, den Philippinen und Mexiko gewesen und habe an der revolutionären Bewegung jener Länder teilgenommen. Die die zeitgenössische Geschichte Chinas behandelnden Kapitel basieren also auf direkter Anschauung, Erfahrungen und auch auf meinem Umgang mit den meisten leitenden Männern des zeitgenössischen China. Sun Yat-sen kannte ich schon seit 1916, und meine Kritik seiner früheren sozialen und politischen Auffassungen gründet sich in erster Linie auf meine persönliche Kenntnis. Anfang 1927, als die nationale Revolution ihren kritischen Punkt erreichte, war ich in China als Delegierter der Kommunistischen Internationale tätig. Jetzt bin ich aus der Kommunistischen Internationale ausgeschlossen und gehöre der kommunistischen Opposition an.«



Dem ist noch hinzuzufügen, daß dem Ausschluß M. N. Roys aus der kommunistischen Internationale ein jahrelanger Kampf an leitender Stelle um die Bestimmung ihrer Politik in China voranging, die ihn zur konsequenten Opposition zwang, was entsprechend der seit dem Tode Lenins üblichen Methoden mit dem Ausschluß geahndet wurde. M. N. Roy, der hervorragendste marxistische Führer der indischen Arbeiterbewegung und noch unter Lenins Führung der bedeutendste Theoretiker der kolonialen Revolutionen teilt hier dieses Schicksal mit Tschen Fu-hsiu, dem hervorragendsten chinesischen Marxisten, dem Begründer und langjährigen Führer der kommunistischen Partei Chinas. Die Kapitel des Buches über die letzten Jahre der chinesischen Revolution enthalten auch eine Kritik der kommunistischen Politik, die teilweise durch die mangelnden Erfahrungen der jungen Arbeiterbewegung, teilweise aber auch durch die falsche Führung Borodins zu schweren Fehlern und Niederlagen geführt hat.



Diese Kritik ist jedoch nicht die Hauptnote des Buches. Das Buch von Roy ist ein Geschichtswerk, das vor allem das chinesische »Rätsel« in das kritische und wegweisende Licht der Revolution stellt und aufzeigt, daß nicht mystische Rätsel, sondern dieselben gesellschaftlichen Naturgesetze, wie in der Geschichte aller Völker und Zeiten, auch in der chinesischen Geschichte regieren. Ausgerüstet mit einer gründlichen Kenntnis der bedeutendsten revolutionären Bewegungen der Weltgeschichte hat es Roy verstanden, die wichtigsten Kapitel der chinesischen Geschichte durch Beispiele aus der Geschichte andrer Völker fesselnd und verständlich für jeden europäischen Leser zu erklären Einzelne Kapitel, wie zum Beispiel I. »Die Grundlagen der chinesischen Gesellschaft«, II. »Die Struktur der chinesischen Gesellschaft« und III. »Die chinesische Wirtschaft« sind Pionierarbeit in der chinesischen Geschichtsforschung, andre wiederum, wie V. »Die Taipingrevolte«, ein Streifzug durch die Geschichte der bürgerlichen Revolution fast der ganzen Welt und die letzten zehn Kapitel eine vorzügliche Reportage unsrer Zeitgeschichte – Chinas.



Der von John Heartfield entworfene Umschlag des Buches zeigt im Hintergrunde die grausige und barbarische Enthauptung eines chinesischen Revolutionärs durch feudale Söldner, daneben einen lächelnden englischen Kolonialsoldaten, und auf der Titelseite im feurigen Rot der Revolution einen Massenredner neben bewaffneten Arbeitern in Schanghai, mit dem Blick weit ins Land gekehrt, rufend und aufwühlend – Revolution und Konterrevolution in China. Wir, die wir in der Schule der proletarischen Revolution auch Zeuge eines Abschnitts der chinesischen Revolution sein konnten, stehen ergriffen vor diesem Werk eines Asiaten, eines Fahnenträgers dieser »minderwertigen« Völker Asiens. Spottet nicht ihrer »Minderwertigkeit«, denn das »chinesische Rätsel« meldet hier seine Lösung an und die Stunde dieser Lösung läutet dem Imperialismus die Todesglocke.



Anmerkung: Die Schreibweise wurde weitestgehend wie im Original beibehalten. Nur offensichtliche Schreibfehler wurden korrigiert. Die Umschrift der chinesischen Orts- und Personennamen wurde der damals in deutschen Zeitungen üblichen (inkonsequenten) Schreibung angepaßt und dann durchgängig vereinheitlicht. (Eine Tabelle mit den Orts- und Personennamen in Pinyin und weiteren gebräuchlichen Umschriften am Ende der Artikelserie.)